Wenn der Lockdown aufs Gemüt schlägt
BAD SOBERNHEIM. Langeweile im Lockdown kann die Stimmung drücken. Durch fehlende Ablenkung kann sich so manches seelische Loch auftun. Sozialtherapeut Andreas Helms aus Bad Sobernheim erklärt in seinem Gastbeitrag, wie leicht sich Selbstzweifel und belastende Gefühle breit machen können und gibt Tipps für das seelische Wohlergehen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie doch einmal alte Fotos aus Ihrer Lebensgeschichte „ausgraben“? Auf Anregung oder besser gesagt auf Drängen meiner Frau habe ich die alten Kästen mit Dias zum Aussortieren hervorgeholt. Durch den Lockdown war ja viel Zeit vorhanden. Was möchte ich behalten, um es digitalisieren zu lassen, und was soll entsorgt werden? Ich habe viele schöne, nette und manchmal komische Bilder gesehen. Gedanklich und emotional hat es aber nicht nur angenehm nachgewirkt.
Normalerweise schützen wir uns vor unangenehmen Gedanken durch Ablenkung
Es ist zu vermuten, dass manche Menschen es eher vermeiden, über alte Fotos einen Blick in die eigene Vergangenheit zu werfen. Wer die Fotos nicht gleich aussortiert hat, wird nun mehr oder weniger mit der eigenen Vorgeschichte konfrontiert. Zweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Scham- und Schuldgefühle können wachgerufen werden. Man könnte auf Seiten seiner eigenen Persönlichkeit stoßen, die man nicht mag oder ablehnt. Soll das Ungewollte lieber fremd und draußen bleiben? Das wäre eine Möglichkeit, sich vor seelischen Belastungen oder Überforderungen zu schützen. Fachleute sprechen von der Abwehrfunktion der Psyche.
Ohne diese Funktion, die die Aufgabe übernimmt, zu belastende innere Reize von unserer alltäglichen emotionalen Wahrnehmung fern zu halten, würden wir von dem gesamten Leid dieser Welt psychisch unerträglich überflutet. Denken wir zum Beispiel an die hungernden Kinder in Afrika, an Unterdrückung und Gewalt in dieser Welt. Unsere innere Abwehr kontrolliert diese emotionalhochbelastenden Eindrücke, mit denen wir über die modernen Medien ständig konfrontiert werden. Natürlich haben wir die furchtbaren Informationen wahrgenommen. Aber wenn unsere innere Abwehr hinreichend funktioniert, schützt sie uns davor, das Leid anderer Menschen ungefiltert mitzuempfinden. Diese Schutzfunktion ermöglicht uns, dass wir uns auf unsere täglichen Aufgaben konzentrieren können. Zum großen Teil funktioniert unsere innere Abwehr über Ablenkung. Wenn wir z. B. konzentriert arbeiten, einem Hobby nachgehen, Unterhaltungssendungen sehen, Kaufen, Essen gehen, Feiern, Spielen, Ausflüge machen und Reisen kommen wir nicht so schnell auf „unangenehme Gedanken“.
Gefahr der psychischen Dekompensation im Lockdown
In diesen Zeiten mit Lockdown entfallen allerdings viele dieser Ablenkungsmöglichkeiten, mit denen wir unser inneres Gleichgewicht stabilisieren, oder fachlich ausgedrückt, innere Belastungen kompensieren. Es besteht die Gefahr der Dekompensation. Dass Erinnerungen wach werden, die in der eigenen Vorgeschichte unerträglich waren, kann Menschen passieren, die schlimme Erfahrungen gemacht haben. Wir sprechen dann von Traumatisierungen. Die innere Abwehr konnte unter gewohnten und stabilen Lebensbedingungen im günstigen Fall verhindern, dass solche Erinnerungen wieder wach werden. Der Lockdown kann zur Folge haben, dass die innere Abwehr nicht mehr ausreichend funktioniert.
Aber auch Menschen, die keine Traumatisierungen erlitten haben, laufen in dieser Zeit Gefahr, psychisch zu dekompensieren. Das äußert sich z. B. in Niedergestimmtheit oder Gereiztheit. Viele Menschen haben mehr unausgefüllte Zeit und kommen ungewollt zur Ruhe. Das, was man sich früher gewünscht hatte, wird zum Problem, da es an Abwechslung mangelt. Das kann dazu führen, dass sie in ungewohnter Weise gewissermaßen mit sich selbstkonfrontiert werden. Die geschilderte Situation, alte Fotos hervor gekramt zu haben, wäre ein Beispiel für einen Auslöser. Aufkommende Zweifel und alle damit verbundenen belastenden Gefühle für sich zu behalten und letztlich herunter zu schlucken, ist ein eingeübtes und vertrautes Verhaltensschema, führt aber nicht selten zu bleibender innerer Unruhe, Gereiztheit, Schlafproblemen oder auch zum vermehrten Runterspülen mit Alkohol.
Drüber reden kann helfen
Die Alternative wäre, sich den Problemen zu stellen, sich zu öffnen, statt zu versuchen, sie zu vergessen. Das heißt, man sollte nicht mehr versuchen, alles mit sich allein auszumachen. Wenn in der eigenen Ursprungsfamilie aber kaum miteinander, nicht über sich und schon garnicht über die eigenen Gefühle gesprochen wurde, findet dieses im späteren Leben meist auchnicht statt. Es bleibt ungewohnt und fremd: „Über was soll man denn reden und was bringt das?“ Meines Erachtens kann es sich aber lohnen, mal jenseits alter Gewohnheiten etwas Neues zu versuchen. Gespräche mit Angehörigen, Freundinnen oder Freunden können seelisch entlasten, von innerem Ballast befreien und den Blick für veränderte Sichtweisen öffnen. Das Miteinander ist heilsam für die Seele, zumal der Mensch nicht als Einzelwesen „konstruiert“ ist, sondern den Kontakt mit anderen Menschen braucht. Nach intensiveren Gesprächen stellt sich häufig die Frage: Wer konnte schon seinen eigenen Lebensweg so zielstrebig einschlagen und finden, ohne sich zu verlaufen, ohne Fehler, Versäumnisse, Schuld und Peinlichkeiten
Profesionelle Hilfe suchen
Um in diesen Zeiten mit weitgehenden Kontaktbeschränkungen nicht die eigene Lebensfreudezu verlieren oder gar depressiv zu werden, kommt es besonders darauf an, etwas für das seelische Wohlergehen zu tun. Gespräche mit Familienangehörigen oder Freunden können aber auch an Grenzen stoßen. Dann kann das Gespräch mit einer neutralen außenstehenden Person weiter helfen.
Über den Autor
Andreas Helms ist Sozialtherapeut und hat lange in der Suchtberatung gearbeitet. Er wohnt in Bad Sobernheim und bietet in seiner Praxis Beratungsgespräche an.
Ihr Einstieg ins Online-Marketing: Werben auf nahe-dran.de
Gefällt Ihnen unser Online-Angebot nahe-dran.de? Dann unterstützen Sie unsere Autoren mit einer Spende!
Ganz einfach per Paypal unter www.nahe-dran.de.